Gutbürgerliches

Vor einem knappen halben Jahrhundert bot das Attribut "gutbürgerlich" die sichere Gewähr dafür, was in dem Restaurant, das sich selbiges gab, zu erwarten war. Keine aufregenden kulinarischen Abenteuer. Gut gemeinten Durchschnitt zu moderaten Preisen. In späteren Zeiten verkam das Attribut "gutbürgerlich" zu einem Synonym für Piefiges, Altbackenes, zumal zahlreiche Restaurants dieses Genres ausschließlich Friteusen und Mikrowellen betätigten, um ihr "Gutbürgerliches", das Schnitzel in 35 Variationen mit der obligatorischen Pommes-Beilage (alternativ Kroketten oder Rösti-Ecken aus der gleichen Friteuse) und dem berühmt-berüchtigten "gem. Salat" an den Mann, die Frau oder die ganze Familie zu bringen.

Doch die Restaurants die ebenso häufig  wie gerne Namen wie "Zur Post", "Ratskeller" oder eben auch "Wiener Stuben" trugen, verschwinden mehr und mehr.  Mit ihnen verschwindet Erinnerungen an eine Zeit, wo das Jägerschnitzel mit Fritten ebenso zum Tagesausflug gehörten wie der gemischte Eisbecher mit einem Tuff Sahne und dem Papierschirmchen. 

Ich habe die Stadt, in der ich dieses Foto gemacht habe noch in Erinnerung, wie sie in den 70er/80er Jahren ausgesehen hat. Damals fuhren die Leute aus meiner ländlichen Heimatregion gerne mal dorthin. Dort gab es ein C&A- und ein Karstadt-Kaufhaus, so etwas Modernes wie eine große Fußgängerzone, ein damals schon sowohl wegen der Torten wie auch der Trüffelpralinen legendäres Café, das es heute immer noch gibt. 

Aber ansonsten musste ich anno 2022 etwas schlucken. Es hat sich vieles verändert, mal abgesehen davon, dass es eben C&A und Karstadt dort nicht mehr gibt, aber inzwischen viele Billigläden, Fastfoodketten, Shisha-Bars, Dönerbuden und Wettbüros, dazwischen leider auch ein grüttelt Maß an Leerstand.

Und dort in der Innenstadt ist es inzwischen wie fast überall. Zum Kaffee setzt man sich nicht mehr in ein Café, sondern läuft mit einem Pappbecher "Coffee to go" durch die Stadt. Überhaupt konsumieren auffällig viele Leute Essen und Trinken im Gehen. Am Marktplatz sitzen zwei Soldaten auf einem Mäuerchen und erfreuen sich an irgendeinem Fastfood. "Die werden sicher froh sein, mal was anderes als ihren Kantinenfraß zu bekommen", denke ich und sehe beim Näherkommen, dass es zwei Oberstleutnante sind.  Tja.

Und dann doch: da ist ja tatsächlich noch ein Ratskeller, ganz klassisch mit dem Zusatz "gutbürgerlich" und geöffnet. Ich schmunzele und gehe aus Neugier mal hin, um am Eingang einen Blick auf die Karte zu werfen. Viele alte gutbürgerliche Bekannte grüßen und da gibt es tatsächlich sogar noch den unverwüstlichen Strammen Max mit Bratkartoffeln und den Kartoffelsalat mit Bockwurst. Ganz so wie früher, so dass man fast Lust bekäme... Der Blick auf die Karte verrät aber auch, dass der Gast für die genannten Gerichte jeweils acht Euro zu bezahlen habe. Oder um es im Maßstab der "guten, alten Zeit" zu nennen: 16 Mark.  Was man damals  wohl an gleicher Stelle zu diesem Preis erhalten hätte...