Demenz
Mich treibt seit über einem Jahrzehnt aus direkter Betroffenheit das Thema "Demenz" um. Zunächst traf sie meinen 2018 verstorbenen Vater. Jetzt schleichen sich die Erinnerungen aus dem Gedächtnis meiner Mutter. Ihr früheres Leben geht eigene Wege und lässt Mutter im Jetzt zurück. Wie das ist, das kann wohl nur derjenige ermessen, der ähnliche Erfahrungen sammeln durfte, konnte, musste.
Gedächtnis heißt, dass man sich an vieles erinnern kann. Dass Erinnerungen bei einem bestimmten Reiz wieder aufleben. Ist bei Geschmackserinnerungen auffällig. Oder bei Musikstücken, die man nach 30 Jahren wieder hört und im Kopf hat, als wäre das letzte Hören gestern gewesen. Erinnerungen, das sind vor allem aber auch Bilder. Momentaufnahmen, statisch oder wie im Film.
Ich bin froh, dass ich (noch) ein sehr gutes Erinnerungsvermögen habe und mich an vieles aus meinem Leben sehr gut erinnern kann. Ich habe so viele Bilder, Filme, Töne, Klänge, Gerüche, Geschmackserlebnisse, Gefühle und vieles mehr abgespeichert. Ich finde das ebenso reizvoll wie faszinierend. Ich muss nicht mit den Daumen über ein Display gleiten um einen bestimmten Moment aus tausenden von Aufnahmen und entsprechenden Dateiordnern herausfischen. Aber ich habe auch Angst, diese Erinnerungen verlieren zu können.
Denn ich habe erfahren, was es heißt, wenn Erinnerungen langsam verblassen, Gesichter undeutlich werden und Namen nichts mehr sagen. Wenn der Wochentag egal ist, genauso wie die Anzahl der angezogenen Pullover. Wenn der Morgen wie der Abend ist und der Mittag wie die Nacht. Wenn plötzlich die Kameraden aus der Schulzeit auftauchen und im Restgedächtnis fröhlich "Hallo" sagen, während vertraute Freunde plötzlich zu unbedeutenden Fremden werden.
Das ganze Leben mit seinen Erinnerungen und Begebenheiten stiehlt sich im Verlauf der Demenz-Erkrankung mehr und mehr davon und lässt denjenigen, der das alles erlebt hat, mit immer weniger sortierten Erinnerungen zurück. Man steht machtlos daneben und versucht, das Ganze zu verstehen. Was schwer genug ist.
Fotografen hingegen schaffen Erinnerungen. Täglich. Der Profi, der nach allen Regeln der Kunst ein Bild komponiert. Der Hobbyfotograf, der sich bemüht, eine Bildaussage ansprechend zu gestalten. Der Handyknipser, der halt knipst, was ihm vor das Gerät kommt: Kinder, Enkelkinder, Urlaubsorte, Mittagessen, Katzen, Hunde. Oder im Zweifel sich selbst. Soll jeder, wie er will und mag. Mir geht es einzig darum, dass sich jeder bewusst ist, was man mit Bildern schafft. Lassen wir Fotos nicht zur bedeutungslosen Ramschware verkommen. Sie haben ihren Wert. Wie Erinnerungen.