Bröckelnder Putz

Es gibt sicherlich viele Fotografen, die das Marode bevorzugen.  Gilt insbesondere für Gebäude. Groß in Mode ist oder war - ich weiß es nicht so genau, weil es nie so ganz mein Ding war - das Fotografieren in so genannten "Lost Places". Mit der unangefochtenen Nr. 1 in Deutschland, den ehemaligen Heilstätten in Beelitz. Am liebsten in HDR. Aber darum geht es mir nicht.

Ja, das Marode ist reizvoll. Wenn etwas verwittert, korrodiert, verfällt, dann hat es etwas zu erzählen. Meist eine sehr lange Geschichte. Die Spuren von Jahren, Jahrzehnten. Von Menschen, von Zerstörungen, von Umwelteinflüssen, von der Zeit, die ins Land gegangen ist. 

Wenn etwas bröckelt, wie etwa der Putz an einer Fassade, dann wird das Darunter freigelegt. Da sind wir bei einem Anliegen der Kunst von der Malerei bis zur Schriftstellerei, von der Fotografie bis zum Kabarett. Der Künstler sucht das, was darunter liegt. Das ist der Reiz, das ist die Aufgabe, das ist Sinn stiftend. 

Als ich an dem Haus mit der bröckelnden Fassade im Ort Brachelen stand, da wusste ich nicht: Ist dieses Haus bewohnt oder nicht? Ein Blick auf Tür und Fenster ließ beide Möglichkeiten zu. Ein stattliches Haus. Ein Haus mit einer sicherlich bewegten Vergangenheit. Vielleicht 100, 120 Jahre alt. Es hat also schlechte, sehr schlechte, aber auch gute Zeiten erlebt.  

Der bröckelnde Putz ist das Synonym für all diese Zeiten. Der feine Putz, das Grobe darunter. Ein Sinnbild für Zerstörung und Hoffnung zugleich. Denn das Haus kann renoviert oder eben abgerissen werden. Oder weiter in diesem Zustand dem Zahn der Zeit ausgesetzt. So oder so werden Erinnerungen bleiben.

Und mit diesen Erinnerungen sind auch die Menschen verbunden, die in diesem Haus jemals gelebt haben. Die sich in diesem abstrakten Bild vom bröckelnden Putz nicht wiederfinden werden. Und dennoch ist dies auch ein stilles Denkmal für genau jene.