Graue Tage
Es sind jene grauen Tage, an denen man auf dem Bürgersteig den Satz "Heute will es gar nicht hell werden" aufschnappt. Jene Tage, an denen man sich zweimal überlegt, ob Pantoffel durch Stiefel ersetzt werden sollen und Mantel, Mütze, Schal wie auch Handschuhe für den Aufenthalt an der frischen Luft dringend angeraten sind. Warum sollte ein Fotograf an solchen Tagen vor die Tür gehen?
"Schauen Sie mal raus, das brauchen Sie bei dem Licht gar nicht erst zu versuchen", beschied mich mein erster Chef in der Zeitungsredaktion, wenn ich eine Reportage an Wintertagen bebildern wollte. Nebenbei war jener Chef ein passionierter und versierter Fotograf, der damals schon nicht verstehen konnte, dass mich solches Wetter reizte. Bilder, die man an grauen Wintertagen schoss, stellten in der Dunkelkammer tatsächlich eine Herausforderung dar. Die Flüche, die ein graues kontrastloses Bild begleiteten, gab es häufiger. Aber wenn ein Bild gelang, dann war es stimmungsvoll. In meinen Augen. Andere nutzten dann gerne Worte wie "traurig" oder "trostlos".
Und doch sind es jene grauen Tage, die ich häufig den sonnigen vorziehe. "Ja, ja, du weißt doch, dass du ein Melancholiker bist", gab mir jemand mit, der mich etwas besser kannte. Vielleicht wieder so ein typischer Wesenszug des Juni-Krebses, der angeblich sehr sensibel und hin und wieder mimosenhaft sein soll.
Mag sein. An jenen grauen Tagen klingt in mir oft der von mir so geschätzte skandinavische Jazz, so dass ich an solchen Tagen von der eigenen Kreativität getrieben bin. Melancholiker... Nicht von der Hand zu weisen.
Das Bild "Grauer Tag" entstand in einer Flussniederung wenige Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Typisch Heimat also. Das Motiv schon 1000mal gesehen. Nie ein Foto wert. Aber an diesem kalten und feucht-nebligen Januartag schon. Ich stehe auf dem Wirtschaftsweg, der an schönen Tagen ein beliebter Radwanderweg ist. Jetzt aber, in der grauen trüben Mittagszeit, liegt Ruhe über dem Land. Aus dem nahen Dorf klingt die Kirchenglocke. Die Regionalbahn fährt vorbei und wird erst in einer halben Stunde wieder zu hören sein. Ansonsten Stille.
Einige Vögel sind unterwegs, Reiher, Krähen, ein Schwanenpärchen sowie einige Wildgänse als Wintergäste. Sie bleiben auf dem Boden und suchen auf dem kargen Winterboden das, was zum Fressen noch übrig geblieben ist.
Diese Ruhe in der feuchten Kälte, dieses schummrige Licht zur hellsten Stunde des Tages. Dieser Anblick der so bekannten Umgebung, dass man ihr für gewöhnlich kaum noch Beachtung schenkt.
Das ist die Stunde des Fotografen, der jeder Umgebung Beachtung schenken muss, um das Bildmotiv zu sehen. "Wie machst du das?" werde ich oft bei meinen heimatlichen Landschaftsbildern gefragt. "Ich würde hier niemals auf die Idee kommen, ein Foto zu machen", wird dieser Satz dann meist fortgeführt.
Vielleicht weil es ein probates Rezept ist: Innehalten, bewusst betrachten und alles um sich herum aufnehmen. Ganz bewusst, in aller Ruhe. Um dann auch aus grauen Tagen ein erinnerungswürdiges Ereignis zu machen.